Der Stadtrat begrüsst die Einführung der Stellvertretungsregelung
Der Stadtrat hat einer Stellvertretungsregelung zugestimmt. Wir haben mit unseren Stadträtinnen Lea Bill und Sarah Rubin darüber gesprochen, wieso dies gut ist und was es darüber hinaus noch bedarf.
grünlinks: Der Stadtrat hat in einer ersten Lesung einer neuen Stellvertretungsregelung für die Mitglieder des Stadtrats zugestimmt. Nun kommt die Vorlage im Herbst ein zweites Mal ins Parlament und danach zur Abstimmung. Wieso ist die Vorlage wichtig und weshalb sollten wir sie annehmen?
Lea Bill: Das Stadtratsamt schliesst per se viele Menschen aus, weil es zum einen zeitintensiv ist und die Sitzungszeiten mit vielen Berufen und Betreuungsaufgaben schlecht vereinbar sind. Die Stellvertretungsregelung hilft, diesen Ausschliessmechanismus zumindest in Bezug auf längere Abwesenheiten zu mindern.
Sarah Rubin: Das Stadtratsmandat ist eine komplexe Aufgabe – zeitintensiv und bescheiden entschädigt. Viele Stadtratsmitglieder stossen verständlicherweise an ihre Grenzen, wenn privat oder beruflich etwas dazukommt – mit der neuen Regelung können Ratsmitglieder während solcher intensiven Phasen pausieren und müssen nicht gleich zurücktreten.
grünlinks: Die jetzige Vorlage geht auf zwei interfraktionelle Motionen zurück, die von Vertreter*innen aller Parteien unterstützt wurden. Ausserdem sprechen sich gemäss einer im Juli 2024 veröffentlichen Umfrage 92 % der Mitglieder des Stadtrats für die Einführung einer Stellvertretungsregelung aus. Wieso hat es dennoch so lange gedauert?
Lea Bill: Die Motionen sind in einer Zeit eingereicht worden, in der der Stadtrat ein Pendenzenberg vor sich hingeschoben hat. Zudem dauern politische Prozesse oftmals lange. Grundsätzlich kann aber gesagt werden, dass der Vereinbarkeit des Stadtratsmandats heute mehr Gewicht beigemessen wird als 2016, als die erste Motion eingereicht wurde.
Sarah Rubin: Ich kann mir zudem vorstellen, dass gerade Corona zwar politische Prozesse verlangsamt hat, aber andererseits ebenso dazu beigetragen hat, dass Strukturen, die bisher als gegeben wahrgenommen, plötzlich als verschiebbar angeschaut wurden. So wurde während der Pandemie die Möglichkeit eingeführt, digital an Sitzungen teilzunehmen.
grünlinks: Könnt ihr aus persönlichen Erfahrungen erzählen, ob eine solche Stellvertretungsregelung euch oder andere Mitglieder des Stadtrats unterstützen würde?
Sarah Rubin: Ich persönlich kenne viele, meistens weibliche Menschen, die aus Elternschaftsgründen oder auch wegen intensiven Lebensphasen das Mandat niedergelegt haben – selbst, wenn sie nach ein paar Monaten gerne wieder eingestiegen wären. Es gibt zahlreiche wichtige Gründe eine Stadtratspause zu machen: Längere Reisen, intensivere Phasen bei der Erwerbsarbeit, eigene Gesundheit, Ausbildungen usw.
Lea Bill: Es gibt zahlreiche Beispiele von Personen in unserer Fraktion, die das Amt niedergelegt haben, weil es nicht mit ihrem restlichen Leben vereinbar war. Die Stellvertretungsregelung hätte hier auf jeden Fall etwas Druck weggenommen beim Entscheid zwischen einem «leeren Sitz» in der Fraktion und den privaten Verpflichtungen. Ich selbst habe 2018 eine viermonatige Reise gemacht und habe lange mit mir gerungen, ob ich das meiner Fraktion «antun» kann. Dies, obwohl die Reise zwischen zwei Arbeitsstellen fiel und ich wusste, dass so eine Gelegenheit wohl nicht mehr so schnell kommen würde.
grünlinks: Das Spezielle an der vorliegenden Regelung im Gegensatz zu anderen Städten und Kantonen ist ja, dass es keine Beschränkung bei den Gründen für die Stellvertretung gibt. Was war die Überlegung dabei?
Sarah Rubin: Ich freue mich darüber, dass die Stadt Bern darauf verzichtet, nach Gründen zu fragen. Denn wie gesagt, es gibt viele individuell wichtige Gründe und diese Gründe sollten nicht gegeneinander ausgespielt werden. Eine Stellvertretungsregelung kommt dem politischen Betrieb und den Wählenden ebenso zugute, da so etwa der Wissensverlust verringert wird.
Lea Bill: Das finde ich eine der grossen Errungenschaften der Berner Regelung! Es soll ja nicht nur um die Überbrückung eines Mutterschaftsurlaubs oder eines längeren beruflichen Auslandsaufenthaltes gehen. Wir erreichen damit, dass niemand Rechenschaft ablegen muss, wieso er*sie die Stellvertretung in Anspruch nimmt.
grünlinks: Trotz Stellvertretungsregelung bleibt die Belastung eines Stadtratsmandats ja weiterhin hoch, seht ihr noch andere Möglichkeiten, um die Situation zu verbessern?
Lea Bill: Wir besprechen dies stadtratsintern immer wieder, zum letzten Mal im Rahmen der diesjährigen Befragung zur Vereinbarkeit des Amtes. Oft ist es aber so, dass gewisse Lösungen für einzelne Personen Vorteile für andere hingegen Nachteile bringen würde – z.B. bei der Frage, ob Sessionen besser wären als Abendsitzungen. Ich glaube, hier müssen wir weiterhin darüber nachdenken, welche Lösungen für möglichst viele Personen die Vereinbarkeit erleichtern würde.
Sarah Rubin: Ich kann mir vorstellen, dass für einige Personen finanzielle Entlastungen von Vorteil wären oder für andere wäre eine grössere administrative Entlastung durch das Ratsbüro hilfreich. Die erwähnte Umfrage hat dann auch unterschiedliche Bedürfnisse aufgezeigt, die sich zum Teil widersprechen. Es ist wichtig, Schritt für Schritt weitere, auch kleine Verbesserungen anzudenken und einzuführen.
Interview: Stefan Dietiker, Redaktion grünlinks