
Was tun gegen Armut?
«Grüne Perspektiven in der Armutspolitik»: Dieses Thema diskutierte die GB-Mitgliederversammlung im März 2024. Kurzreferate hielten Olivier Lehmann und Rulla Sutter, die an der Berner Fachhochschule zu Armut forschen, sowie Colette Hersche. Sie hat 2019 zusammen mit Berufskolleginnen die «Actio Bern – Fachstelle für Sozialhilferecht» gegründet.
Der Gestaltungsspielraum der Gemeinden in der Armutspolitik sei eng, schickt Olivier Lehmann voraus. Am Ende des Abends wird sich allerdings zeigen, dass Armutspolitik durchaus auf Gemeindeebene stattfindet, dass wir auch in der Stadt Bern Armut bekämpfen können. Olivier Lehmann kritisiert eine Armutsdefinition, die sich auf finanzielle Aspekte von Armut beschränkt. Arme Menschen würden vielmehr unter fehlenden Verwirklichungschancen leiden, was bedeutet, dass sie in vielen Lebensbereichen ihre Wünsche nicht verwirklichen können. Oft sind beispielsweise die Pflege von sozialen Beziehungen erschwert, arme Menschen können sich nicht gut um ihre Gesundheit kümmern. Und die Teilhabe am politischen Leben bleibt ihnen verwehrt.
Überdurchschnittlich von Armut betroffen sind in der Schweiz viele Menschen ohne Bürger*innenrecht, Menschen, die schlecht ausgebildet sind, allein oder in Einelternhaushalten leben. Jedoch sind auch Zweieltern-Familien häufig armutsbedroht. Armut ist ein Stigma in der reichen Schweiz. Dass sich viele Menschen dafür schämen, arm zu sein, betont auch Colette Hersche.
30% der sozialhilfeberechtigten Menschen beziehen keine Sozialhilfe
Scham und Angst vor Stigmatisierung führen dazu, dass schätzungsweise ein Drittel der Menschen, die sozialhilfeberechtigt sind, keine Sozialhilfe beziehen. Bei den Ergänzungsleistungen sieht es ähnlich aus: Rund jede dritte Person, welche Ergänzungsleistungen zugute hätte, bezieht diese nicht.
Colette Hersche erzählt von Menschen, die sich erst bei den Sozialdiensten melden, wenn sie hohe Steuer- und Krankenkassenschulden haben, wenn sie alle Möbel verkauft haben und keine Rechnungen mehr bezahlen können. Neben Angst und Scham sind auch fehlendes Wissen, Misstrauen gegen die Behörden oder die komplizierte Administration Gründe, auf Sozialhilfeleistungen zu verzichten. Dazu kommt, dass der Sozialhilfebezug für Menschen ohne Schweizerpass negative Konsequenzen hat: Ihnen droht im schlimmsten Fall der Entzug ihrer Niederlassungsbewilligung.
Angebote ausserhalb der Sozialhilfe sind wichtig
Gerade weil viele Menschen aus Scham oder Angst keine Sozialhilfe beziehen, sind niederschwellige Angebote für die Armutsbekämpfung enorm wichtig. Dies betonen sowohl Colette Hersche wie auch Olivier Lehmann und Rulla Sutter: Ohne Caritas-Läden, Winterhilfe, Schweizertafel, Quartiertreffs, kirchliche Angebote oder die Schulsozialarbeit wäre die Armut in der Schweiz noch viel erdrückender.
Und genau in diesem Bereich liegt der Spielraum auf Gemeindeebene: Als Grünes Bündnis sehen wir es als unsere Pflicht an, niederschwellige Angebote zu unterstützen, zu stärken und, wo es sie noch nicht gibt, zu erfinden und anzuregen. In den Worten von Rulla Sutter: Gemeinden sind Labore, in denen neue Ideen ausprobiert werden können.
Franziska Geiser, Stadträtin GB