Rücktritt von Haşim Sancar: «Politik hat mit Freude und Leiden zu tun»
Im Mai tritt Haşim Sancar als Grossrat zurück. Im Interview erzählt er, wie er dank einem Gleichgewicht zwischen Leiden und Freude von der bürgerlich-ländlichen Übermacht unbeeindruckt blieb.
grünlinks: Hasim Sancar, die bürgerlich-ländliche Übermacht im Grossen Rat scheint schwer aushaltbar. Kann die parlamentarische Arbeit auch Spass machen und geht es manchmal sogar richtig lustig zu?
Haşim Sancar, Grossrat und Sozialarbeiter: Ich habe nicht gelitten im Grossen Rat. Zwölf Jahre lang hat für mich das Gleichgewicht zwischen Leiden und Freude gestimmt. Man leidet wegen der Belastung und wenn man trotz grossem Einsatz verliert. Freude hatte ich, wenn ich die Sicht der Benachteiligten einbringen und zur Verbesserung ihrer Situation beitragen konnte. Und Freude haben mir auch die Anlässe gemacht wie der Skitag und dann natürlich Fussball, der SC Grossrat! Geärgert habe ich mich über die drei Kollegen, die während drei Legislaturen unsere Fraktion verlassen haben, ohne zurückzutreten. Lustig fand ich, wenn mir manchmal Kolleg*innen aus anderen Parteien gesagt haben: “Dein Vorstoss ist im Fall gut, aber ich war bei der Abstimmung auf dem WC.” Schmunzeln konnte ich auch über Ratsmitglieder, die einmal so und dann wieder komplett gegensätzlich argumentierten. Das kam häufiger vor bei Leuten aus der SVP – aber nicht nur!
Du spielst aktiv Fussball im SC Grossrat. Dort machen Leute aus allen Parteien mit, wie auf den Teambildern zu sehen ist.
Ja, und ich hatte dadurch sehr gute Kontakte auch zu Kollegen aus der SVP. Man nimmt sich beim Sport mehr als Mensch wahr. Beim Essen spricht man über Privates, aber auch über Politik. Natürlich stimmen am Ende alle mit der Fraktion ab. Aber ich kann mir vorstellen, dass die Fussballkollegen intern etwas anders argumentiert haben, als wenn sie mich nicht persönlich kennengelernt hätten. Fussball mit dem SC Grossrat ist einfach ein Spass. Ich konnte manchmal sogar meine Söhne mitnehmen. Solange ich kann, werde ich weiter spielen. Ich wurde schon angefragt.
Du warst lange in der Geschäftsprüfungskommission des Grossen Rates (GPK). Funktioniert die demokratische Kontrolle der Verwaltung im Kanton Bern?
Zum Glück haben wir in der Schweiz eine funktionierende Demokratie, auch bezüglich der sogenannten „Vierten Gewalt“, den Medien. Im Vergleich zu anderen Ländern berichten sie mehrheitlich wahrheitsgemäss und bilden die öffentliche Meinung ab. Die Politik hat aber in den letzten 20 Jahren problematische Auslagerungen unternommen, die dazu geführt haben, dass weniger Kontrolle möglich ist. Im Kanton betraf dies Spitäler, BKW und BLS, in der Stadt Bern Energie Wasser Bern (EWB) und BERNMOBIL sowie vorübergehend der Bereich Hochbauten. Die ausgelagerten Betriebe weigern sich manchmal, für die Kontrolle notwendige Dokumente zur Verfügung zu stellen. Wenn es hart auf hart kommt, kann sich die GPK bei den ausgelagerten Betrieben nicht wirklich durchsetzen. Auch wenn das selten vorkommt, ist das eine unbefriedigende Situation.
Regierungsrat Schnegg, Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektor, ist ein Freund von Sozialabbauplänen.
2019 wollten das Berner Parlament und der Regierungsrat z.B. eine Gesetzesrevision, um den Grundbedarf für Sozialhilfebezüger*innen um bis zu 8% unter den Wert in den Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) zu senken. Bern wäre der erste Kanton gewesen mit einer solchen Sparmassnahme. Die ganze Schweiz hätte auf Bern geschaut, um selber Kürzungen machen zu können. In der so noch nie dagewesenen «Verkehrt»-Kampagne der Sozialarbeitenden und mit Hilfe eines Komitees der linksgrünen Parteien wurde die Vorlage mit 52% Nein verworfen! Regierungsrat Schnegg hat letztes Jahr einer Erhöhung des Grundbedarfs in der Sozialhilfe zugestimmt.
Sind Social Media praktisch oder eher lästig bis bedrohlich?
Es besteht ein gewisser Druck, dass auf Social Media präsent sein muss, wer wählbar sein will. Aber neben Arbeit, Familie und Parlament konnte ich mir das zeitlich gar nicht leisten. Instagram habe ich im letzten Wahlkampf etwas benutzt. Ich setze aber eher auf Printmedien, z.B. mit Leserbriefen und Zeitungsartikeln. Als Stadtrat bin ich wegen meiner kurdischen Wurzeln und meiner linken Politik beschimpft worden. Einmal habe ich Post bekommen, die einen Polizeieinsatz zur Folge hatte und vorübergehende Nachteile für die ganze Familie.
Bei deinem Einsatz für Grundrechte hast du dich auch polizeikritisch gezeigt.
Ich bin nicht feindlich gegenüber der Polizei eingestellt. Sie macht ja grundsätzlich gute Arbeit. Aber da sie das Gewaltmonopol hat und bewaffnet ist, ist es unsere Aufgabe, ihre Arbeit kritisch zu beobachten, sie mit demokratischen Mitteln zu kontrollieren und zu intervenieren, wenn etwas nicht gut läuft. Als Stadtrat hatte ich viele Vorstösse gemacht, als Grossrat weniger, weil ich durch die Kommissionsarbeit mehr Informationen hatte.
Was sollten wir Grüne auf kantonaler Ebene als nächstes angehen?
Die Themen Ökologie und Armut werden im Kanton und in der Schweiz weiter wichtig bleiben. Das ist unsere Stärke als Grünes Bündnis, Ökologie mit sozialer Verantwortung zu verbinden. Das müssen wir beibehalten.
Haşim Sancar, vielen Dank, dass du dir Zeit genommen hast für dieses Interview. Wir wünschen dir für die Zukunft Gesundheit, Erfolg und Freude.
Anita Geret, Mitglied der Redaktion grünlinks