Kein Datum könnte passender sein: Am 1. Mai, dem internationalen Tag der Arbeit, hat das Rot-Grün-Mitte-Bündnis (RGM) mit der Unterschriftensammlung für die Initiative «Ein Lohn zum Leben. Für einen gesetzlichen Mindestlohn in der Stadt Bern» begonnen. Der Mindestlohn soll 23.80 Franken pro Stunde oder 4300 Franken pro Monat brutto betragen. Diese Zahl ist nicht einfach aus der Luft gegriffen, sondern richtet sich nach den Ansätzen für Ergänzungsleistungen. Entsprechend sind auch Mieten und Krankenkassenprämien mit eingerechnet. Der Mindestlohn soll regelmässig der Teuerung angepasst werden. Die Initiative verlangt, dass der Mindestlohn für alle Arbeitnehmenden gilt, die vollständig oder mehrheitlich in der Stadt Bern arbeiten. Ausgenommen sind unter anderem Lernende und Menschen in kurzen Ausbildungspraktika. Schätzungen gehen davon aus, dass ein solcher Mindestlohn die Lebenssituation von bis zu 10’000 Beschäftigten merklich verbessern kann.

Bis im Herbst müssen 5000 Unterschriften zusammenkommen.

Gleichstellungspolitisches Anliegen

Mindestlöhne legen eine gesetzliche Lohnuntergrenze fest und verhindern Hungerlöhne. Das schützt vor allem Beschäftigte in Tieflohnbranchen. Das kommt insbesondere den im Tieflohnbereich übervertretenen Frauen zugute: «Mindestlöhne sind ein wirksames Instrument zur Bekämpfung der Lohn- und Rentenungleichheit zwischen Frauen und Männern», sagt dazu Ursina Anderegg. Der Gewerkschafter Davide De Filippo vom Syndikat SIT aus Genf ergänzt: «Dank des Mindestlohns sind vor allem die Löhne von Angestellten im Detailhandel, in Pflegeberufen, der Gastronomie und Hotellerie sowie der Kosmetik- und Coiffeurbranche von einem Tag auf den anderen teils massiv gestiegen.» Die Lebensqualität vieler Berufsleute habe sich dank des Genfer Mindestlohns deutlich verbessert.

Ursina Anderegg wirbt am 1. Mai für den städtischen Mindestlohn. Bild: Manu Friederich

Gute Erfahrungen in der Schweiz

Es gibt in der Schweiz verschiedene Kantone, die seit mehreren Jahren gesetzliche Mindestlöhne kennen. Der erste war der Kanton Neuenburg, dann folgten Jura, Tessin und Genf. Eine Begleitstudie von José Ramirez, Wirtschaftsprofessor in Genf, zeigt klar, dass die von Wirtschaftskreisen befürchteten negativen Auswirkungen ausgeblieben sind: Die Arbeitslosigkeit entwickelte sich ähnlich wie im Nachbarkanton Waadt, wo kein Mindestlohn gilt. Und es gibt in Genf – entgegen den Befürchtungen der Wirtschaft – keine Zunahme bei den Grenzgänger*innen. Das gleiche gilt für Neuenburg, wo seit 2017 ein Mindestlohn gilt.

In Basel-Stadt gilt seit Juli 2022 ein Mindestlohn und die Sache scheint gut zu laufen. Der Kanton schreibt nach einem Jahr: «Die bisherigen Kontrollen verliefen kooperativ und zeigen, dass auch in den Tieflohnbranchen der Mindestlohn in den allermeisten Fällen eingehalten wird.»

Gegenwind aus der Wirtschaft

Bereits 2017 hat das Bundesgericht die Einführung von gesetzlichen Mindestlöhnen auf kantonaler Ebene für zulässig erklärt. Bedingung ist, dass der Mindestlohn sozialpolitisch begründet ist. Dies bedeutet, dass die Höhe des Mindestlohnes nicht zu hoch angesetzt werden darf. Bei der Stadtberner Initiative ist das erfüllt: Im vorgeschlagenen Zweckartikel steht, dass der Mindestlohn zu einer besseren sozialen Situation der Arbeitnehmenden führen soll, und dass sich die Höhe nach den Berechnungen zur Existenzsicherung der Ergänzungsleistungen richtet.

Trotz diesem höchstrichterlichen Entscheid lassen die Gegner aus der Wirtschaft und den bürgerlichen Parteien nicht locker: In den Städten Zürich und Winterthur hat die Bevölkerung entsprechenden Initiativen im Sommer 2023 mit grosser Mehrheit zugestimmt. Nun bekämpfen aber die Gewerbeverbände diese Verbesserung mit Klagen vor dem Verwaltungsgericht. Deshalb konnten die Initiativen dort noch nicht umgesetzt werden.

Die bürgerlichen Parteien und Verbände bekämpfen die kantonalen und städtischen Mindestlohnpflichten, die auch in Branchen mit GAV gelten, auch im nationalen Parlament. Während sie sonst bei jeder Gelegenheit den Föderalismus predigen, wollen sie plötzlich den Kantonen und Gemeinden ins Handwerk pfuschen – insbesondere den linken Städten. So hat Erich Ettlin (Mitte, OW) im Ständerat eine Motion durchgebracht, damit nationale Branchen-GAVs mit tieferen Mindestlöhnen von den kantonalen Mindestlöhnen ausgenommen werden sollen. So gewichten bürgerliche Parlamentarier*innen Profitinteressen höher als den Schutz von Menschen, die 100 Prozent arbeiten und trotzdem in Armut leben.

In der Stadt Bern besteht die Hoffnung, dass ein gesetzlicher Mindestlohn, der allen Menschen ein Leben in Würde ermöglicht, auf viel Wohlwollen stossen wird. Ursina Anderegg ist zuversichtlich: «Ich bin überzeugt, dass die stimmberechtigten Berner*innen den Anspruch haben, ihrer Reinigungsfachperson, ihrem Coiffeur oder ihrer Paketbotin einen Lohn zum Leben für ihre Arbeit zu ermöglichen.»   

Bettina Dauwalder, Redaktion grünlinks
Bilder: Manu Friederich