«Lex Reitschule» – Videoüberwachung durch die Hintertür
Der Grosse Rat des Kantons Bern hat im September einer Änderungen des Polizeigesetzes zugestimmt, die es dem Kanton zukünftig erlaubt, gegen den Willen der Gemeinden Überwachungskameras aufzustellen.
In der Herbstsession beugte sich der Grosse Rat über das Polizeigesetz. Eigentlich aus erfreulichen Gründen: Das Bundesgericht hatte infolge der Beschwerde verschiedener Parteien und Organisationen – darunter das Grüne Bündnis – einige Passagen im Polizeigesetz als grundrechtswidrig erklärt und aufgehoben, allen voran die rassistische Bestimmung zur Wegweisung von Fahrenden. Das Resultat der Beratung war jedoch alles andere als erfreulich: Die bürgerliche Mehrheit drückte die «Lex Reitschule» mit Hinterzimmerdeals durch, die Kritik des Datenschützers an der ausufernden Fahrzeugfahndung wurde ignoriert und Verbesserungsvorschläge unsererseits abgeschmettert.
«Lex Reitschule»
Zur Verhinderung und Ahndung von Straftaten können Gemeinden heute in Zustimmung mit der Kantonspolizei an einzelnen öffentlichen Orten Videoüberwachungsgeräte einsetzen. So sieht es das aktuelle Polizeigesetz des Kantons Bern vor.1 Der Grosse Rat hat nun entschieden, dass künftig der Regierungsrat diese Autonomie beschneiden kann, indem er die Gemeinde zum Einsatz von Videoüberwachungen zwingen kann. Wie kam es dazu?
In der Stadt Bern entscheidet gemäss städtischem Videoreglement der Stadtrat auf Antrag des Gemeinderats über das Anbringen und die Betriebszeiten von Überwachungskameras auf öffentlichem Grund. Diese Regelung war FDP-Politiker Philippe Müller bereits zu seiner Zeit als Grossrat ein Dorn im Auge, weshalb er versuchte, diese Kompetenz mittels Motion zu verhindern.2 Im Jahr 2020, als Philippe Müller bereits Sicherheitsdirektor war, bestellte er dann eine weitere Motion3 bei seiner FDP, um die Kompetenz zu erhalten, Gemeinden zu Videoüberwachung zu verpflichten – erfolgreich.
Aufgrund der Verletzung der Gemeindeautonomie war dieses Vorhaben im Vorfeld der Grossratsdebatte stark umstritten. Die GRÜNEN Kanton Bern, aber auch SP, GLP, EVP, die Städte Bern, Biel, Thun und der mächtige Verband Bernischer Gemeinden VBG verlangten in der Vernehmlassung die Streichung. Im Grossen Rat war dann die Gemeindeautonomie plötzlich kein Thema mehr: Nach intransparenten Hinterzimmerdeals, von der nicht mal die zuständige Sicherheitskommission erfuhr, vollführte der VBG mit seinem Präsidenten und SVP-Grossrat Daniel Bichsel eine Kehrtwende. Er reichte Anträge zu einer nebensächlichen Frage ein – neu muss der Regierungsrat und nicht die Sicherheitsdirektion die Videoüberwachung verfügen – und erklärte damit die Bestimmung für unproblematisch für die Gemeinden. Der Bürgerliche Block stimmte ihm geschlossen zu, GRÜNE, SP, GLP und EVP wehrten sich vergeblich.
Es ist nicht das erste Mal, dass bürgerliche Politiker*innen versuchen, die ihnen unangenehme städtische Politik mittels Entscheiden im Kanton zu kippen. Im Dezember kommt das Polizeigesetz ein zweites Mal in den Grossen Rat. Sollte eine Mehrheit an der «Lex Reitschule» festhalten, muss die Stadt Bern eine Beschwerde an das Bundesgericht prüfen. Das GB seinerseits wird eine solche ebenfalls prüfen und zusammen mit Partnern die Frage eines Referendums diskutieren.
Rahel Ruch, Grossrätin und Co-Präsidentin GB
Weitere Informationen:
1 Art. 123 Abs. 1 Polizeigesetz (PolG), BSG 551.1
2 Motion Müller, Praxisnahe Handhabung der Videoüberwachung, 240-2010
3 Motion Hegg, Mehr Sicherheit ohne bürokratische Zuständigkeitsfragen, 316-2020